Was ist Brauchtum ?

Als mich neulich mein zehnjähriger Sohn fragte:

„Papa, was ist Brauchtum?“

» Eine gute Frage, Thomas. Weshalb willst Du das wissen? «

» Marco hat mir heute Morgen in der Schule erzählt, sein Papa sei Brauchtumspfleger der  Freien Narrenzunft Hausach. «

» Ja, das stimmt, Thomas. Eine wichtige Aufgabe, die nicht einfach ist. «

» Was eine Narrenzunft ist, das weiß ich, Papa. Und wenn ich groß bin, dann will ich Spättle werden. So wie Marcos Bruder. Er darf dieses Jahr zum ersten Mal mit einer Spättlemaske auf die Straße. «

» Darf Marcos Bruder schon eine Maske tragen? Wie alt ist er denn? Das kann ich mir kaum vorstellen, dass er... «

» ...doch, Papa. Er ist schon ganz groß! «

» Ja, ich weiß, aber ist er schon 18? «

» Er hat doch am Fastnachtssonntag Geburtstag, Papa! Er will eine Riesenfete machen, aber Marco und ich sind nicht eingeladen... «

» Mhm, dann müsst ihr euch für den Fastnachtssonntag etwas eigenes ausdenken, meinst du nicht? «

» Ich ziehe wieder mein Hansele an... Aber sag Mal, Papa, Brauchtumspfleger ist ein komisches Wort, findest du nicht? «

» Wieso ist das ein komisches Wort, Thomas? «

» Ich kenne nur die Tierpfleger im Zoo. Als wir letztes Jahr in Stuttgart die Elefanten gesehen haben, erinnerst du dich? «

» Ja, und du warst ganz aus dem Häuschen, wie viel diese Dickhäuter auf einmal ins Maul stopfen können... «

» ...und der Pfleger, der jeden Mittag zu Oma kommt, den finde ich auch ganz nett. Aber Brauchtumspfleger...? Weshalb muss man das Brauchtum pflegen? Ist das wie eine Krankheit? «

» Nein, Thomas. Brauchtum hat erst einmal etwas mit dem Wort "Brauch" zu tun. «

» Papa, ist ein Brauch dann das, was ich brauche? «

» Ja, Thomas, auch, aber... «

» ...ich brauche ja dich und Mama. Seid ihr dann mein Brauchtum? «

» Nein, Thomas. Wir sind deine Eltern, deine Familie. Brauchtum hat natürlich auch die Bedeutung von "etwas brauchen" aber Menschen können kein... «

» ...ich verstehe. Menschen können kein Brauchtum sein. Das wolltest du doch sagen, oder? Unsere Lehrerin hat uns nämlich beigebracht, dass alle Wörter, die auf "tum" aufhören, keine Wörter sind, die man anfassen kann wie Dinge. Ich verstehe das Wort "Brauchtum" trotzdem nicht. «

» Was genau verstehst du nicht, Thomas? «

» Schau mal, Papa. Meine Playstation, zum Beispiel. Die brauche ich, sonst wäre mir oft langweilig. Heißt das also, wenn ich mit meiner Playstation spiele, dann ist das mein Brauchtum? «

» Nein, Thomas. Das könnte man allenfalls als Zeitvertreib bezeichnen. Einfach ein Spiel. So wie du auch etwas anderes tun könntest, um dich nicht zu langweilen. Fahrradfahren oder ins Hallenbad gehen. Brauchtum, Thomas,  bezieht sich nicht auf die Freizeitbeschäftigung einer einzelnen Person. Auch nicht auf zwei oder drei, die miteinander den Nachmittag verbringen und etwas unternehmen. Es muss schon eine größere Gruppe von Menschen sein, die etwas gemeinsam tun, das sie zu bestimmten Anlässen, an vorgegebenen Tagen, also meistens zur selben Zeit im Jahr ganz bewusst vollziehen und durchführen. Über Jahre, sogar über Generationen hinweg. «

» Ach so. Jetzt verstehe ich. Du gehst ja häufig mit deinen Freunden wandern. Jeden ersten Sonntag im Monat. Ich war ja auch schon dabei. Nicht so oft wie du, aber ich bin manchmal mitgewandert, stimmt´s? «

» Ja, Thomas, das stimmt, und ich habe mich auch immer sehr darüber gefreut. «

» Meistens haben wir unterwegs angehalten und mittags eine Vesperpause eingelegt. Da sind doch auch ganz viele dabei, Fritz und Michael und Ferdinand und Marco und... «

» ...auch das ist kein Brauchtum, Thomas. Das macht mir  einfach Spaß und ist auch noch gesund. Du weißt ja, dass man abends nach einer Wanderung wunderbar schläft, weil uns die frische Luft gut tut. Es ist einfach eine herrliche Abweschslung. «

» Eine Abwechslung, mhm... aber ihr sprecht ja dann immer nur von früher... «

» Thomas, je älter man wird... aber das ist ein anderes Thema... «

» Dann erklär mir doch einfach, was Brauchtum ist, Papa! «

» Thomas, man spricht dann von Brauchtum, wenn das, was eine Gruppe von Menschen gemeinsam tut, eine lange, überlieferte Geschichte hat und von Generation zu Generation weitergegeben wird. Brauchtum ist meistens mit einem Ort und der dazugehörenden Gegend verbunden. Man handelt dann immer gleich oder ziemlich gleich. Der Urgroßvater hat es von seinem Vater erfahren. Oder die Großmutter gibt Gewohnheiten weiter, die sie von den Urgroßeltern gelernt hat. Der Vater wiederum von seinen Eltern. Und diese lassen wiederum ihre Kinder daran teilhaben. Und so weiter. Meistens handelt es sich dabei auch um eine Sitte, wenn ein höherer Sinn dahinter steckt. Nimm das Osternest, z.B. Der alte Brauch den Osterhasen zu suchen. Das habe ich als Kind auch getan, und deine Großeltern waren als Kinder auch schon auf der Suche nach dem Osterhasen... «

» Das ist ja auch schön, Papa. Ich freue mich jedes Jahr, wenn er kommt... und ich weiß ja, wer das Nest versteckt... «

» Bist du dir sicher, das du das weißt? Aber selbst, wenn dem so wäre, macht es dir doch trotzdem Spaß, oder? «

» Ich find´s  richtig lustig, Papa! «

» ...und es macht nicht nur einen Riesenspaß, das Osternest zu suchen oder den "Osterhasen zu jagen", wie man früher sagte, sondern es hat für uns Christen natürlich eine Bedeutung, die darüber hinausweist. Wir wollen mit diesem Brauch besonders unseren Kindern zeigen, dass wir große Freude empfinden, weil Christus auferstanden ist. Deshalb feiern wir am Ostersonntag, essen und trinken, und es gibt nach der langen Fastenzeit auch wieder Süßes und Schokolade. Früher verzichteten viele Erwachsene während der Fastentage sogar auf Fleisch und Wein. Und Ostern, Thomas, das weißt du ja, wird nicht an Weihnachten gefeiert und Weihnachten nicht an Ostern. Viele Feste sind eng mit der jeweiligen Jahreszeit verbunden. So wie in unseren Breitengraden die Jahreszeiten unser Leben mitbestimmen, spiegeln sich auch oft unsere Feste in den Jahreszeiten. Deshalb gibt es viele, verschiedene Bräuche. Alle zusammen könnte man als "Brauchtum" bezeichnen. «

» Und was hat Ostern mit Fastnacht zu tun, Papa? «

» Nun, vor Ostern liegt zeitlich die Fastenzeit, und diese beginnt am Aschermittwoch. Deshalb ist ein paar Tage zuvor Fastnacht. Es wird also kräftig gefeiert – Du hörst es bestimmt heraus, dass im Wort "Fastnacht" das Wort "fasten" steckt. Heute fasten bei uns nur noch wenige Menschen. Aber früher zu Zeiten deines Großvaters war das anders. Da haben sich die Menschen noch einmal ausgelebt und all das getan, was sie in der Fastenzeit nicht tun sollten und auch nicht tun durften. Aber das können wir ein andermal besprechen. Wie gesagt, es ist Vieles nicht mehr so wie früher oder in Vergessenheit geraten. Die Lebensweisen ändern sich. Und dennoch sollte man wissen, weshalb man etwas tut und weshalb nicht. «

» Papa, das heißt also dass es Osterbräuche und Weihnachtsbräuche, Frühlingsbräuche, Sommerbräuche, Herbst- und Winterbräuche gibt...? «

» Ja, Thomas. Und die verschiedenen Länder haben unterschiedliche Bräuche. Es gibt auch einige Berufe, die ihre eigenen Bräuche kennen. Viele Handwerker pflegen heute noch Bräuche, die weit ins Mittelalter zurückreichen. Wichtig ist, dass sich jemand um diese alten Bräuche kümmert. So ist es auch mit der Fastnacht in Hausach. Jedes Jahr vor Beginn der Fastenzeit, stellen die Narren in Hausach die Welt für ein paar Tage auf den Kopf. Wie schon ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Sie versuchen, das, was sie von ihnen gelernt, bei ihnen gesehen oder miterlebt haben, auch zu feiern.  Wie sie. Brauchtum ist auch immer eine Feier, musst du wissen. Deshalb gibt es auch Regeln, nach denen diese Feier stattfindet. Bestimmte Tage, bestimmte Uhrzeiten, besondere Musik... «

» Ist die Fastnacht schon so alt, Papa? «

» Ja, Thomas. Natürlich ist nicht alles wirklich alt, das heißt uralt, was heute in der Fastnacht veranstaltet wird. Aber einiges schon. Vieles wurde auch immer wieder erneuert. Ein bisschen sollte man auch mit der Zeit gehen. Allerdings... «

» ...was ist das älteste Brauchtum in Hausach, Papa? «

» Du meinst jetzt das Fastnachtsbrauchtum, oder? «

» Ja, Papa, wir reden doch über Fastnacht und nicht über Ostern. «

» Da gibt es ein paar sehr schöne Ereignisse, die über 100 Jahre alt sind, Thomas. Der Große Umzug am Fastnachtssonntag z.B., oder die Katzenmusik. Ich glaube, das sind sicherlich die beiden ältesten Fastnachstveranstaltungen, die es in Hausach gibt. Auch die "Elfemess" hat schon einige Jahre auf dem Buckel. «

» Und die Kinderkatzenmusik? «

» Auch die gab es schon vor über 100 Jahren. Nur war sie nicht so organisiert wie heute... «

» Marco und ich freuen uns schon wieder sehr darauf und auf die ganzen Süßigkeiten... «

» Siehst du, Thomas. Und die Süßigkeiten, die gibt es ja nicht einfach so, sondern es muss kräftig Krach gemacht werden, und es muss gesungen werden: "Hoorig, hoorig, hoorig isch die Katz, un wenn die Katz nit hoorig isch, fängt sie keine Mäuse..." «

» Ja, und:  „De Schornebeck sott läbe un sott uns ebbis gäbe...“ «

» Diese Form des Bettelns ist übrigens ein alter "Haischebrauch". Ein Teil des Fastnachtsbrauchtums in Hausach ist es aber auch, in ein  Häs zu schlüpfen und sich zu verkleiden und eine Maske zu tragen. Die Traditionsmaske in Hausach kennst du ja, die Brettleslarv der Hansele... «

» Papa, ist die Hanselemaske  unser ältestes Brauchtum? «

» Im eigentlichen Sinne schon. Aber eine Maske allein macht noch kein Brauchtum aus. Vielmehr ist es die Art und Weise, wie diese Maske getragen wird und was man damit anstellt. Ich gebe Dir ein Beispiel: Nimm den Hanseleschritt. Du weißt doch, wie die Hansele zur Musik springen. Das ist schon lange so überliefert. Seit es den Hausacher Fastnachtsmarsch gibt. Und wenn sich jemand plötzlich ganz anders verhält oder einfach nur durch die Gegend plumpst, dann ist das kein wirkliches Brauchtum mehr, das weitergegeben wird. Dann verlieren bestimmte Dinge ihren Sinn. Denn das Brauchtum versucht immer die Art und Weise der Handlungen, die es seit Jahrhunderten und Jahrzehnten gibt, so ehrlich wie möglich weiterzugeben. Man spricht dann auch von Zeremonien. Dir gefällt z.B. der Rap... Nun, man könnte keine Rapmusik spielen oder von einer CD laufen lassen, wenn die Hansele springen, das wäre... «

» ...das ist ja auch eine ganz andere Musik, Papa. Das kann ich mir auch nicht vorstellen... «

» ...und  ein Brauchtumspfleger achtet z.B. auf solche Dinge. Auf die Abläufe der Handlungen, die Bewegungen, die einzelnen Rituale... «

» Was sind Rituale? «

» Das sind fest gelegte Regeln, nach denen eine Handlung vollzogen wird. Denke z. B. an die Schlüsselübergabe auf dem Rathaus – da warst du zwar noch nicht dabei, aber du hast schon gesehen, wie er aus dem Fenster an einem Seil heruntergelassen wurde. Oder denke an die Verbrennung der Fastnacht in Hausach... «

» ...und ein Brauchtumspfleger passt auf das alles auf? «

» Ja, er oder der Zeremonienmeister. Der Zeremonienmeister ist in Hausach auch der Brauchtumspfleger. Er passt z.B. darauf auf, dass die Musik, die zum Hansele gehört, auch so gespielt wird, so dass die Hansele noch mit springen können. Aber nicht nur das. Er achtet auch darauf, ob das Hansele oder eine Spättlemadlee richtig angezogen sind. Jedes noch so kleine Teil am Häs hat auch eine Geschichte und bedeutet etwas. Ein Häs erzählt Dir Geschichten. Du musst sie natürlich kennen...

» Papa, erzählst du mir die Geschichten? «

» Ja, Thomas, aber wir schauen uns erst einmal alles in unserem Codex an und dann erzähle ich Dir, was sich z.B. beim Hanselehäs hinter den verschiedenen Farben verbirgt, weshalb es einen  Fedrewisch oder den grünen Leibgürtel gibt, und was es mit der Saublooder auf sich hat Oder, wofür die Spatten beim Spättle stehen. Dann verstehst du vielleicht eher, weshalb es einen Brauchtumspfleger gibt... Dann verstehst du vielleicht eher, weshalb es einen Brauchtumspfleger gibt... «

» Papa, ich freue mich schon wieder richtig auf die nächste Fasent... «

» Nicht nur du, Thomas... «


José F.A. Oliver